Literatur

Weiterlesen Weihnachtsgeschichte 2020:  Rosenkohl

...Brrrr. Das war doch kälter als gedacht. Schnell malte sie das „C“ ihres Kürzels „CHf“ an eine unauffällige Stelle, dann wollte sie das „H“ daneben stellen. Aber was war das? Der Pinsel hatte irgendwie keinen Widerstand mehr und drang in die Wand ein. War dahinter eine marode Salpeterstelle? Nö jetzt!! Einen Moment lang schüttelte es sie und sie wusste nicht genau, ob vor Kälte oder Ärger, wenn das Bild tatsächlich repariert werden müsste. Ihr wurde sogar leicht schwindelig. Unwillig schüttelte sie den Kopf und besah sich das Bild noch einmal genauer. Kam es ihr nicht so vor, als ob es ein wenig verblasst wäre, die strahlenden Farben irgendwie stumpfer? Sie stellte das Farbtöpfchen hinter sich auf die kleine Mauer ab, die das Beet um die Terrasse einfasste.

Was war DAS jetzt, gerade hatten sie und ihr Mann noch den Garten auf  Vordermann für den Winter gebracht, aber das Beet sah richtig ungepflegt aus. Sonst sorgten ja nur die Amseln jeden Tag dafür, dass Rindenmulchstücke, mit denen die Erde abgedeckt war, schön gleichmäßig auf der Terrasse verteilt und tiefe Löcher im Boden von der Schnabelhackerei aufgerissen waren. Candice hätte den geflügelten Verursachern gerne jedes Mal ihre kleinen Hinterteile versohlt, wenn sie sie erwischt hätte. Für was stellte sie denn immer reichlich Futter zur Verfügung? Und griff dann doch zum Handfeger, um die Bescherung wieder an ihren Platz zurückzuschieben. Wahrscheinlich hätten ihr die Amseln dafür auch gerne einiges an den Hals gewünscht. Aber jetzt sahen die Steine mit der Holzoptik so aus, als hätten sie schon lange keinen Besen mehr gesehen, die Koniferen waren unregelmäßig buschig außer Form.

Verdammt, war das kalt. Sie musste wieder rein ins Warme und einen Mantel holen, sonst wären die nächsten Symptome zwar wahrscheinlich keine Coronaviruserkrankung, aber eine fette Erkältung. Sie überlegte, das mit der Signatur mit ihrer Enkelin gemeinsam doch lieber gleich an den Festtagen zu erledigen.

Erschauernd schloss sie die Terrassentür und schüttelte sich noch einmal. Ah die Wärme neben der Heizung tat gut. Ihr Mann, Werner Huffert, betrat gerade das Wohnzimmer. Candice schaute auf die Uhr. Ja es war langsam Zeit für die Vorbereitung des Mittagessens. „Und, bleibt es beim Amerikanischen Nudelauflauf mit Schinken?“ fragte sie ihn, denn sie hatten sich am Morgen bei der täglichen Frühstücksplanung noch nicht so endgültig ganz dafür entschieden. Dorade auf Ratatouille mit Reis war das Gegenangebot.

Werner wirkte genervt. „Hä? Was soll das? Ich habe doch für Rosenkohl mit Maronen gestimmt!“

Candice schmunzelte. Sie wusste, dass ihr Mann Rosenkohl ebenso hasste, wie sie ihn mochte, besonders als Gemüsetopf mit Maronen. „Und was dazu? Gebackene Tomaten mit Oliven?“ grinste sie ihn an. Noch so ein NO GO für ihren Ehegespons. Ging wirklich gar nicht. Wie bei ihr alles, was mit Curry oder Fenchel zu tun hatte. Jeder von beiden hatte da so seine Abneigungen, wenn auch nur wenige.

Sie erwartete eine lustige Bemerkung, war aber verwundert über seinen Ton. „Was willst du denn, die Master-Beeinflusserin hat das doch heute eindeutig befürwortet…!“ Das hätte spöttisch kommen sollen oder feixend oder mit einem lachenden Unterton. Kam aber genervt, als ob sie etwas ganz Falsches oder Beleidigendes gesagt hätte.

„Wer?“ fragte sie.

„Hast du denn die amtliche Influencer-App heute nicht konsultiert?“,  kam die kurze, unfreundliche  Entgegnung. „Dann mach das gefälligst jetzt!“, und war aus der Tür.

So, da war es wieder, das dringende Gefühl: hier stimmte was nicht. Da war was oberfaul. Er meinte das tatsächlich ernst. Candice lief ihm nach. „Ne, jetzt im Ernst, DU willst wirklich Rosenkohl? Mach ich gerne…“

„Ja doch! Sagte ich doch eben!“

„Dann muss ich nochmal einkaufen, hab nix mehr da.“ Und mit einem verblüfften Blick auf das Sideboard im Gang fügte sie noch schnell hinzu, bevor er sich in sein Büro zurückziehen konnte: „Wo sind denn unsere Masken hin?“ Da war alles freigeräumt und keine der selbstgenähten oder gekauften Mund-Nasen-Verhüller mehr gestapelt.

„Das musst du doch am besten wissen, du hast sie doch vor 10 Jahren verräumt. Was willst du denn jetzt mit denen?“ Sprachs und knallte die Bürotür zu.

Jetzt war Candice beleidigt. Was sollte das? Warum reagierte ihr Mann so, das hatte es in den über 40 Jahren Ehe noch nie gegeben. Umpf, dann sollte er doch…und dann kann er auch seinen Rosenkohl haben.

Sie öffnete den Wandschrank und kramte ein wenig. Da hatte sie doch immer die Masken verstaut, die sie beide nicht so gerne aufsetzten, weil sie nicht optimal saßen. Nichts. Sie schob einige Einmachgläser zur Seite, hob ein paar Schachteln hoch. Da, ganz hinten im Eck hatte sich eine versteckt, zerknüllt, knallpink und etwas zu groß für sie. Das musste jetzt genügen. Sie stopfte sie in die Tasche ihrer Winterjacke, zog auch noch Stiefel an und machte sich auf den Weg. „Bin dann mal weg!“ rief sie im Gehen noch in Richtung Bürotür, erwartete aber keine Antwort.

Auf dem Supermarktparkplatz war es voll, ganz hinten war noch ein Plätzchen für sie. Sie griff nach der Maske und wollte sie schon aufsetzen, bemerkte aber zu ihrer Verblüffung, dass keiner eine trug. Einige Passanten unterhielten sich, nah aufeinander gedrängt, lautstark. An der Tür keine Hygienestation mehr. Alle, die herauskamen, hatten… eine Packung Rosenkohl in der Hand. Frische im Netz oder tiefgefrorene im Karton. Candice betrat den Laden, die Maske noch unter dem Kinn. „Guck mal Mami, die blöde Frau da hat eine Maske im Gesicht!“ krähte gerade ein dicklicher Junge, heftig an der Hand seiner Mutter reißend. Die grinste dümmlich spöttisch. „Ja ja, die Alten….“ Meinten die beiden sie?

Im Vorraum waren Berge von Rosenkohlnetze auf Tischen gestapelt, eine Tiefkühltruhe daneben bot Fertigprodukte davon an. Angrenzend gab es Maronen. Alles zu geradezu unverschämten Preisen. Candice nahm zwei der kleinsten Fertigpackungen aus der Truhe, das würde zu Hause dann schneller gehen. Maronen hatte sie noch, die liebte sie und hatte immer eine Packung vorrätig. An der Kasse ging es erfreulich zügig, da fast jeder vor ihr nur die beiden Teile in der Hand hatte.

„Wieso haben sie keine Maronen genommen?“ blaffte sie die Kraft an der Kasse unfreundlich an und mit einer unwilligen Kopfgeste in Richtung ihrer Maske: „Sind sie krank?“

„Nein, ich hab noch welche daheim.“ Schnell bezahlte sie 18,50 Euro für den Kleinsteinkauf und machte, dass sie raus kam.

Werner hatte sich bis zum Essen nicht mehr blicken lassen. Was er dann schweigend tat, sah routinemäßig aus, so als ob er es jeden Tag machte: er fotografierte den Teller mit dem Gemüse und den Kartoffeln und schickte das Bild ab, bevor er eine Rindswurst dazu legte.

Candice wunderte sich nur noch.

Er hatte bisher kein Wort mehr gesprochen. Jetzt sagte er, immer noch genervt: „Gib deinen Teller her, dann mach ich das für uns beide. Das gibt mehr Punkte.“ Schmerzerfüllt zuckte er zusammen, als er die Schulter beim Holen ihres Tellers bewegte. „Die Punkte reichen immer noch nicht für den Orthopäden…!

Mit eher unglücklichem Blick schaufelte er erst das Gemüse in sich rein, dann mit mehr Genuss die Wurst und die Kartoffeln. „Das müssen die da ja nicht sehen. Hoffentlich wird es an Weihnachten nicht wieder so übel, wie letztes Jahr…“

Er mochte also Rosenkohl immer noch nicht.

„Was werden wir da machen, wenn die Kinder kommen?“ konnte Candice es sich nicht verkneifen zu fragen.

„Werden wohl wieder nicht kommen dürfen und es lohnt sich ja auch die lange Fahrt nicht, wegen des einen Abends. War das noch schön, als wir einen geschmückten Baum hatten und gemeinsam feiern und Fleisch ohne Punkteabzug genießen durften….“ Das klang traurig.

Nach dem Essen verzog sich Candice‘s Mann umgehend wieder in sein Büro und sie nutze die Zeit, um endlich herauszufinden, was da los war. Was sie im Internet recherchierte, konnte sie erst überhaupt nicht glauben:

Hier, in dieser kruden Realität, in der sie sich jetzt offensichtlich befand, war Corona seit 10 Jahren Geschichte, hatte den gesamten Erdball fünf Jahre gebeutelt. Die Wirtschaft lag brach und die Menschen hatten größere soziale Kontakte nur noch über die Medien. Die meisten arbeiteten oder lernten alleine zu Hause, nur noch kleinste Familien lebten zusammen. Die ersten Corona-Impfungen stellten sich als zu kurzfristig wirksam heraus, die Ansteckungsgefahr kam viel zu schnell wieder und die Zahlen der Infizierten schossen erneut hoch. Also forschte man weiter, isolierte sich weiter, erfuhr Begegnung nur noch aus dem Internet. Als die Gefahr dann endgültig gebannt war, hatten die Menschen schon die vierte Generation Impfstoff im Körper. Die letzte war zwingend, auf der ganzen Welt.

Was aber keiner ahnen konnte, war eine kleine, fast unbedeutende Nebenwirkung.

Dieser letzte Impfstoff  beeinflusste die Gefühlswelt im limbischen System des Gehirns, ließ die Menschen zwar langsam und schleichend aber eben doch langfristig und unwiederbringlich abstumpfen, machte sie im Laufe der Zeit weniger kritisch für Offensichtliches, gleichgültig dem täglichen Leben gegenüber.

Zusätzlich wuchs gerade über die so viel genutzten Medien die Anzahl der sogenannten „Influencer“, die Beeinflusser eigener Gnaden, die immer mehr an Macht gewannen und schließlich die Politik übernommen hatten. Um in den Genuss von all dem zu kommen, was für Candice in ihrer Realität selbstverständlich war, musste man beweisen, dass man konform ging. So war das also mit dem Foto vom aufgezwungenen Mittagessen. Das brachte Punkte, mit denen man sich eine bessere ärztliche Versorgung leisten konnte, hochwertigere Produkte bestellen durfte und Ähnliches mehr. Wer eine Gold- oder Platin-Mitgliedschaft besaß, die die meisten Punkte einbrachte, folgte offiziell der höchsten Anzahl kleinerer oder größerer Influencer-Zentren, wo sich die Jugend mit etlichen Startups festgebissen hatte und bestimmte, was man essen sollte, welche Kleidung und Marken erlaubt waren und wie oft und zu welchem Arzt man gehen durfte. Um diese zu erreichen, musste man sich „hocharbeiten“: liken und kaufen, was das Zeug hielt. Etwas anderes gab es nicht mehr. Was im Netz klein mit Youtube, Instagram, Twitter und Co. begann, war ins Gigantische gewachsen. Gesendet von Menschen, die sich selbst zu Wissenden ernannten und so wichtige Dinge zeigten, wie man z. B. seinen Körper am besten zum Posen positioniert, wenn man ein Selfie macht, und welches Smartphone man dabei zu nutzen hatte, wie man ein angesagtes Produkt von einem „grottoiden“ unterscheidet oder sich auffällig mit überteuerten Produkten „aufbitched“. Die Blase der unkontrollierten Informationen blähte sich auf, zog zahlreiche Sponsoren an, die ein Riesengeschäft witterten und nebenbei die Beeinflusser auch noch reich machten. Followers gab es weltweit im Überfluss und es wurden immer mehr. Die Influencer hatten die Wirtschaft in der Hand. Und alle machten gedankenlos mit…

Der gesunde Menschenverstand nahm dank des letzten Corona-Impfstoffes stetig ab, machte absoluter Gleichgültigkeit Platz. Jetzt waren es die Menschen gewohnt, sich mit Apps vorschreiben zu lassen, was sie tun und lassen sollten, weil ein Jüngelchen oder eine Tussi, noch nass hinter den Ohren, im Internet das für gut befand - oder eben nicht. Wer kaufte, bekam die ersehnte Belohnung aufs Konto. Deswegen auch der verwahrloste Garten. Das war nicht hip und brachte kein Geld. Wer das von sich aus machte, bekam eben keine Punkte. Warum sollte man also. War doch egal…

Der kritische Blick schwand, der Fake-News, alternative Fakten oder einfach Sinnbereinigtes als das entlarvte, was es ist. Feiertage waren fast gänzlich abgeschafft. Man arbeitete mit den neuen Medien, rund um den Globus, rund um die Uhr. Die Wirtschaft erholte sich immer noch nicht schnell genug - oder eben gerade wegen dieser neuen Strukturen nicht.

Allerdings: Corona war geheilt.

Aber zu welchem Preis.

Candice brauchte Luft, die Wahrheit zu verdauen, die ihr den Hals zuschnürte. Sie zog sich warm an, griff erneut nach Farbtopf und Pinsel und machte sich daran, die Signatur doch noch zu vollenden. Was sie am Morgen gemalt hatte, war ebenso blass geworden, wie das restliche Bild. Kein Wunder, nach 10 Jahren in einer alternativen Realität. Also übermalte sie sorgfältig das „C“, setzte zum „H“ an. Der Pinsel rutschte an der gleichen Stelle in die Wand, wurde einfach verschluckt und ihr wurde wieder schwindelig. Als sie sich an die Wand gelehnt wieder im Griff hatte und die Augen öffnete, hatte sich auch ihre Umwelt geändert; Das Bild an der Wand leuchtete in strahlenden Farben, der Garten war gepflegt. Nur die Amseln hatten ganze Arbeit geleistet.

Werner kam mit dem Besen aus dem Haus.

„Ich kehr das mal weg.“ sagte er. „Was machen wir zu Mittag? Ich hätte schon Lust auf den Auflauf - und die Dorade morgen vielleicht?“, strahlte er voller Vorfreude.

Candice war zurück.

Nachmittags besorgten sie den kleinen Baum, der jedes Jahr seinen festen Platz im Wohnzimmer bekam und in der letzten Woche vor Weihnachten geschmückt wurde. Und bald stand auch die Menüfolge für die Feiertage fest, in der jeder in der Familie auf seine Kosten kommen sollte, wenn man sich endlich im engen Kreis an Heiligabend wieder treffen durfte - trotz Corona….  

© Claudia Hüfner 2020  

… und nochmal zur Erinnerung: das Wandbild gibt’s ja wirklich, aber das mit der Signatur hab ich vorsichtshalber gelassen - man weiß ja nie ;-)) …  

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